ODER: ERSCHÜTTERNDE KONFRONTATION
Wir leben in unseren Territorien, die wir Alltag nennen. Gut behütetet und weit ab vom übrigen Weltgeschehen, das wir lediglich in den Medien verfolgen. Wir bekunden virtuell Mitleid und regen uns über Umstände jeglicher Art auf. Alles auf Abstand, weil unsere trügerischen Gedanken uns vorgaukeln, wir seien schon mittendrin.
Da fuhr ich wie jeden Morgen mit der Bahn zur Arbeit, saß auf meinem Stammplatz im hintersten Abteil und nutzte die Zeit, um mich fertig zu schminken. Obligatorischer Halt am Hauptbahnhof, Menschen steigen ein und aus. Darunter eine zehnköpfige Familie – unsicher setzten sie sich um mich herum und eine Frau meines Alters nahm freundlich lächelnd direkt neben mir Platz. Sie trugen einen kleinen Koffer mit sich und mehrere Plastiktüten. Ein Kind fiel erschöpft auf dem Sitz um, ein anderes wand sich schreiend und überdreht auf dem Boden.
An dieser Stelle war ich mir bereits der wahrhaftigen Konfrontation mit einer Flüchtlingsfamilie bewusst und steckte voller Scham mein Schminkzeug weg. Erste-Welt-Probleme treffen auf die Wirklichkeit. Also bot ich dem immer noch schreienden Kind meinen Platz an, die nächste Haltestelle würde ich sowieso aussteigen. Die Mutter winkte ab, dennoch sah ich die Dankbarkeit in ihren Augen. Noch erleichterter schien der Junge zu sein, dessen Schreie im Moment des Setzens augenblicklich verstummten.
Meine Augen wurden feucht und ich konnte die Tränen der Erschütterung gerade noch zurückhalten. Diese Menschen, die gerade so erschöpft und doch glücklich dort saßen, soviel Stärke bewiesen und alles verloren haben, sollten nicht sehen, dass sie mich zu Tränen rühren, dass sie bei mir Mitleid erregen. Und so war die sich öffnende Tür die größte Erleichterung, denn im selben Moment fluteten sich meine Augen und der Strom sollte nicht versiegen, bis ich auf der Arbeit eintraf. Und selbst dort wurde ich immer wieder von brachialen Gefühlen übermannt.
Wir verfolgen das Geschehen medial, spenden unsere Kleidung und andere Habseligkeiten. Meinen, wir kennen die Umstände und würden schon genug Hilflosigkeit und Mitleid empfinden. Aber auf die Realität bereitet dich kein Medium vor. Und dann trifft es dich, im wahrsten Sinne des Wortes.
MANTEL // H&M (ALT)
ROCK // H&M (2ND HAND)
PULLOVER / SCHUHE // H&M
TASCHE // BETTY BARCLAY
LIPPENSTIFT // LUSH „STÄRKE“
Danke für den Text. Mich beschäftigt das ganz genau so wie viele von uns. Wie viel Glück wir haben mit unseren Erste-Welt-Problemen, mit unseren Zweifeln und Gedankenkreiseln, die eigentlich fast schon lächerlich sind (oder zumindest so viel leichter lösbar).
Dein Outfit mag ich übrigens auch sehr gerne! Das soll hier keineswegs zu kurz kommen. Nur nochmal danke dafür, dass Du in dieser glitzernden Bloggerwelt auch noch Platz für die Realität lässt!